Endymion

von Dan Simmons.

Dan Simmons setzte seinen Hyperion-Epos wenig später fort, indem er auf ein anderes Gedicht von John Keats als Inspirationsquelle zurückgriff und die beiden Endymionbände, "Endymion: Die Pforten der Zeit" und "Endymion: die Auferstehung" (in typisch deutscher Betitelung der Originale, die schlicht "Endymion" und "The Rise Of Endymion" heißen) schrieb, die knappe zweihundert Jahre später die Geschichte von Hyperion fortsetzen.

Das Gedicht von John Keats greift auf den antiken Mythos des Schafhirten Endymion zurück, der sich in die Mondgöttin Cynthia verliebt. Bei Dan Simmons wird der Farmjunge Raul Endymion, der auf Hyperion aufgewachsen ist, Begleiter, Leibwächter und Liebhaber des Mädchens Aenea, das nichts geringeres als eine Art neuer Messias ist, der nach dem Untergang der Hegemonie und dem scheinbaren Frieden des Pax, der von der zur neuen Macht aufgestiegenen katholischen Kirche rigoros aufrecht erhalten wird, den Menschen neue Freiheit schenken soll.
Die katholisch geprägte neue Universalreligion hat den Menschen relative Unsterblichkeit geschenkt, indem jeder Gläubige eine Symbiose mit einem kreuzförmigen Parasiten eingeht (der bereits bei Hyperion in einer der Pilgergeschichten erste Erwähnung findet), der in der Lage ist, einen Verstorbenen Molekül für Molekül inklusive aller Denkmuster und Erinnerungen wieder herzustellen. Auch der scheinbar besiegte Technocore wirkt weiter...
Endymion ist im Vergleich zu Hyperion völlig anders angelegt. Gab es bei Hyperion eine Vielzahl von Charakteren, deren Blickwinkel man einnahm, werden die beiden Endymionbände zu großen Teilen in der Ich-Form vom Erzähler bestritten, was allerdings auch die menschliche und emotionale Seite der Geschichte vertieft.
Der erste der beiden Endymionbände ist dabei nicht viel mehr als eine klassische Verfolgungsjagd quer durch das ehemalige Terrain der Hegemonie, Häscher der Kirche immer auf den Fersen von Aenea und ihren Begleitern. Aber Simmons läßt auch hier bereits phantastische Schauplätze entstehen, und entwickelt Ideen, die furchtbar konsequent erscheinen - so gelingt es den Verfolgern der Kirche nur deshalb, mit Endymion und Aenea Schritt zu halten, weil das neu entwickelte Raumschiff so schnell beschleunigt, daß die Insassen auf der Stelle getötet werden. Im Zielsystem angekommen und bei normaler Beschleunigung werden diese dann einfach durch den Symbionten neu ins Leben gerufen. Vielfacher Tod und ebenso vielfache Wiederauferstehung warten damit auf die Verfolger.
Mitten in der spannenden und auch recht actionreichen Verfolgungsjagd vertieft Simmons immer mehr das eigentliche Thema und greift die Fäden auf, die bei Abschluß von Hyperion noch offen waren. Man erfährt viele der Geheimnisse, die es zum Schluß der ersten beiden Bände noch gegeben hat, während einige andere auch weiterhin offenbleiben. Simmons enthüllt aber endlich den wirklichen Zweck des Shrike und vertieft den Konflikt zwischen Menschen und den Künstlichen Intelligenzen im Technocore, die, scheinbar verschwunden, nur auf noch perfidere Art und Weise den Menschen wie Zuchttiere für ihre Zwecke verwenden und subtil für ihre eigenen Pläne nutzen.
Über allem thront aber die Reise von Endymion und Aenea, deren Liebesgeschichte wunderbar erzählt ist. Aeneas Schicksal und ihre messianische Botschaft an die Menschheit berührt die Grundfesten der Existenz. Sie beantwortet einige der größten Rätsel und Geheimnisse, die in Simmons' Büchern aufgestellt werden. Im Rückblick über alle vier Bände betrachtet ist es Simmons gelungen, einen intelligenten, überaus spannenden und tiefreichenden SF-Roman zu schreiben, der zwar einige Aufmerksamkeit beim Lesen erfordert, da eine Vielzahl von Ideen und Gedanken entwickelt werden, die später wieder aufgegriffen und aufgelöst oder weiterentwickelt werden, dafür aber den Leser auch mit phantastischen Schauplätzen, überaus lebendigen Charakteren und einer epischen Handlung belohnt. Mir persönlich ist eine gewisse thematische Nähe zu den Matrix-Filmen dabei aufgefallen. Hier wie dort dreht es sich um Maschinenintelligenzen, die die Menschheit für ihre eigenen Zwecke benutzen, verbunden mit religiösen Themen und einem Messias, der der Menschheit eine neue Perspektive geben soll. Doch wo Matrix einfach nur kolossal enttäuscht und unter der Lack- und Lederoberfläche und hinter den Sonnenbrillen inhaltlich vor allem im 2. und 3. Teil nicht viel zu bieten hat und die beiden Regisseure anscheinend selber nicht wußten, was genau sie da taten, brilliert Simmons mit Hyperion und Endymion nachhaltig und zeigt, was aus diesem Thema gemacht werden kann.
Man muß hier noch deutlich sagen, daß Simmons alle vier Romane lange vor Matrix abgeschlossen hat, der letzte Endymionband erschien 1997. Vielleicht aber haben die Wachowskibrüder ja Simmons gelesen. Interessanterweise jedenfalls gibt es bei Endymion eine Szene, in der Simmons die heutzutage beinahe schon berüchtigte "Bullet-Time" (also jene Hochgeschwindigkeitszeitlupe mit sich bewegender Kamera) in allen Details beschreibt. Das ist aber nur eine Notiz am Rande. Simmons beschreitet ganz andere Wege als Matrix natürlich.
Wenn es etwas negatives zu sagen gibt über die vier Bände, dann, daß in den beiden Endymionbänden der Held Raul Endymion nicht immer sehr clever wirkt, was manchmal etwas unglaubwürdig wird, und sich der Schluß für den Leser schon etliche Seiten vorher ankündigt, der Erzähler aber nicht einmal unmittelbar vor Ende des Romans eine Ahnung hat, wie sich ein gewisser Irrtum von ihm nun endlich auflösen wird.
Auch hat der messianische Charakter von Aenea einige Nachteile. Simmons läßt die junge Frau manchmal etwas zu viel erzählen, es ist dabei zwar interessant und für das tiefere Verständnis der Geschichte enorm wichtig, aber es hat dann manchmal den Charakter einer New Age Vorlesung. Doch dieser kleine Fehler soll niemanden abschrecken und erst recht niemanden davon abhalten, eines der wichtigsten SF-Werke unserer Zeit zu lesen.
Welcher SF-Roman jedenfalls kann von sich behaupten, Interesse an alten englischen Dichtern zu wecken oder auch diese Vielzahl an philosophischen, religiösen und auch ökologischen Themen zu behandeln und dabei trotzdem hochspannend und menschlich zu sein?
Simmons' Welt ist jederzeit greifbar, erlebbar, weil Simmons stets die Charaktere in den Mittelpunkt rückt. Nicht die Technik. Hier sind die Menschen die treibende Kraft hinter der Geschichte. Und nicht die Geschichte der Zweck für einige Charaktere, die brav das tun, was die Geschichte und damit der Autor von ihnen will. Und so ist ein zentraler Punkt auch die Natur des Menschen. Ist der Mensch nur ein Mensch wenn er wie ein Mensch aussieht? Oder ist man auch ein Mensch, wenn Gestalt und Form sich ändern, Empfinden und Denken aber gleich bleiben? Anders formuliert: ist der Weg der Hegemonie, der totalen Vorherrschaft über allem anderen Leben, der Ausrottung und Vernichtung potentieller anderer Intelligenzen gerechtfertigt, die Anpassung der Lebensumstände also an den Menschen - oder sollte sich der Mensch den Lebensumständen anpassen, was letzten Endes dazu führt, daß sich verschiedenste Ausprägungen des Menschen, vielleicht auch komplett neue Menschenarten, entwickeln werden?
Der aktuelle Bezug Simmons' ist stets spürbar. Und so erzählt Simmons' Roman letzten Endes - wie jede gute SF- keine hypothetische Weltraumoper mit Weltraumschlachten (auch wenn es Weltraumschlachten bei Simmons gibt) sondern transformiert und interpoliert unsere heutige Welt in eine 800 Jahre entfernte Zukunft. Bei Endymion verbunden mit einer Liebesgeschichte wahrhaft kosmischen Ausmaßes. Überaus intim und eindringlich und - in bester Tradition - bittersüß tragisch. Oder doch mit glücklichem Ende? Das muß man schon selbst herausfinden und für sich entscheiden. So oder so ist das Ende Dan Simmons sehr eindringlich geraten.

Auch die beiden Endymionbände gibt es in Deutsch als Sammelband. Beide Bände gehören ohnehin zusammen und können nicht getrennt gelesen werden.

[geschrieben von Thomas]

 

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