"Antarktika"

von Kim Stanley Robinson

DER AUTOR

Kim Stanley Robinson wurde 1952 in den USA geboren. 1982 erreichte er den Magisterabschluss mit der Arbeit The Novels of Philip K. Dick. Einem breiteren amerikanischen Publikum bekannt wurde er durch seine "Orange Country"-Trilogie, einer Geschichte der Pazifikküste südlich von Los Angeles.
1992 erschien der monumentale Roman "Roter Mars" der Auftakt zu seiner weltberühmten vielprämiierten Mars-Trilogie(bei HEYNE als Hardcover erschienen; "Roter Mars" ist zur Zeit im Handel nicht erhältlich) mit den Fortsetzungsbänden "Grüner Mars" (1994) und "Blauer Mars" (1996), in der die Kolonialisierung des Roten Planeten detailliert, lebendig und facettenreich geschildert wird. 1999 wurde ein Ergänzungsband, "Die Marsianer", veröffentlicht.
K.S. Robinson ist inzwischen einer der angesehensten und erfolgreichsten SF-Autoren der USA. Sein Publikum liebt die detaillierten Charakterzeichnungen und, was nur wenigen SF-Autoren gelingt, die Verknüpfung der HARD SF und SOFT SCIENCE, der Natur- und der Geisteswissenschaften.


DER INHALT

Der Roman bewegt sich in einer ganz nahen Zukunft mitten im 21. Jahrhundert. Der Antarktisvertrag, der den Kontinent vor der Ausbeutung seiner Bodenschätze bewahrt und ausschließlich wissenschaftlichen und, besonderer Genehmigung erforderlichen touristischen Zwecken geöffnet hat, ist gerade abgelaufen. Nun gilt es neu zu verhandeln und so treffen im ewigen Eis der südpolaren Region die unterschiedlichsten Interessen aufeinander: Der Verlängerung des Vertrages stehen die Interessen weltweiter Großkonzerne im Wege, die ihre Pfründe auf Antarktika sichern wollen. ‚Unermessliche' Bodenschatzvorkommen locken und die Gier ist groß. Die kleineren südamerikanischen und afrikanischen Anrainerstaaten wittern ihre Chance, endlich durch eigene Ölfunde dort aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit von den westlichen Industrieländern herauszukommen. Wissenschaftler bestehen auf der Weiterführung ihrer Forschungen, wichtiger als je zuvor, da die anderen Kontinente immer mehr unter den Auswirkungen der globalen Erwärmung mit all ihren Klimakatastrophen zu leiden haben. Und eine Gruppe radikaler Umweltschützer will die Antarktis als "letzte Wildnis der Erde" vor jeglichem zivilisierten Zugriff bewahren und schreckt nicht vor gewaltsamen Wegen zur Erreichung ihrer Ziele zurück.

Vier Protagonisten begleiten den Leser auf dem Weg über den antarktischen Kontinent, der viel später erst als der Mars der Menschheit bekannt wurde und doch so viel mit ihm gemeinsam hat: Die Kälte, das Fehlen von eigenem Leben, die extrem dünne trockene Luft auf den Hochplateaus, und durchschnittliche Höhen von mind. 2 km über dem Meeresspiegel ...
Die großgewachsene bildhübsche Amazone Val(erie) Kenning ist ausgebildete Bergführerin, hat schon einige Achttausender bestiegen und leitet nun Trekkingtouren über Eis und Gletscher. Sie hat gerade eine kurze Liason mit dem nur einige Zentimeter größeren "X" (so steht's auf seiner Latzhose) abgebrochen und der hilflos romantisch veranlagte, junge Mann leidet noch schmerzlich darunter. Er ist als GFA (General Field Assistant) in der MacMurdo Station angestellt, was so viel bedeutet wie, die Drecksarbeiten erledigen zu müssen. Nun hat er die Nase voll davon und wechselt zu den südamerikanischen Ölbohrern ...
Wade Norton ist der Repräsentant des, sich Golfschläger schwingend über den Erdball arbeitenden, demokratischen Senators Phil Chase und der Antarktis-Experte in dessen Hilfsstab, was soviel heißt wie, Wade hat einmal einen Report über den Antarktisvertrag verfasst. Das reicht Chase, um Wade zur Erkundung der Lage nach MacMurdo zu schicken ...
Ta Shu ist Schriftsteller, Journalist und Geomantiker mit bemerkenswerten Kenntnissen der uralten Feng Shui Harmonielehre. Er besucht im Rahmen des Practical Artist & Writers Program für einige Wochen MacMurdo. Das Publikum zu Hause in China und die Online-Welt kann er an seinen Reisen mittels einer Multimediabrille teilhaben lassen, die das, was er sieht und spricht, live übermittelt. Und so erzählt er dem Leser auch die Historie Antarktikas, von den bewegenden Schicksalen seiner Entdecker, ob sie Scott, Amundsen, Shackleton, Cherry-Garrard, Bird, Worsley oder ... heißen.

[Bis hierhin kann der Interessent noch ohne Gefahr lesen - nun aber wird's konkret.]

Rätselhafte Diebstähle von wichtigem Gerät und merkwürdige Funde an den unterschiedlichsten Stellen verunsichern die Verwaltung in MacMurdo; wer steckt dahinter? Wade trifft bei seinen Nachforschungen in der Station selbst und am Südpol auf viel Geheimnistuerei und wenig wirkliche Antworten. Ein Trip mit der begehrenswerten Val, die ihm nicht abgeneigt ist, führt die beiden zu einem Wissenschaftlerteam, welches die Wirkungen des Treibhauseffekts auf die Beschaffenheit des Eises untersucht und dabei auf Spuren eines Millionen Jahre alten Buchenwaldes stößt. Danach fliegt er zu Carlos' Ölbohrern am Roberts Massiv, wo auch X arbeitet Val soll eine Trekking-Gruppe "auf Amundsens Spuren" zum Pol führen. Macho-Jack, macht ihr das Leben dabei schwer, Ta Shu ist eine Wonne. Beim Aufstieg über einen Gletscher verlieren sie den Versorgungsschlitten in einer Gletscherspalte. Kein Problem heutzutage, der Hubschrauber wird sie abholen, doch MacMurdo meldet sich nicht und auch das GPS-Ortungssystem funktioniert nicht. Ihre einzige Überlebenschance ist der 100km weite Fußweg zum Basiscamp der Ölsucher, Mohns Station. Für Jack wird der Trip zur Tortur, denn sein rechtes Schlüsselbein ist gebrochen.
Die Erklärung für den Funkausfall: Die sog. Ökotage hat stattgefunden: Anschläge der radikalen "Umweltschützer", über den ganzen Kontinent gestreut. Das Satellitenkommunikationsnetz ist ausgefallen, die Treibstofftanks von MacMurdo sind verunreinigt worden, die Öl-Bohrplattform wurde in die Luft gesprengt ... Carlos, Wade und X, die gemeinsam ein altes Raupenfahrzeug untersucht hatten, müssen Unterschlupf finden. Auch sie peilen mit ihren Skidoos Mohns Station an und die Überraschung ist groß, als sie dort Vals Gruppe trifft. Ein rudimentärer Funkkontakt ist inzwischen wieder möglich, doch können alle erst in einigen Tagen abgeholt werden, andere Rettungsaktionen haben Priorität. Jack geht es aber zunehmend schlechter. Die Gruppe beschließt, sich mit dem alten Luftkissenfahrzeug, gesteuert von Carlos und X, auf den Weg zu Shackletons Camp zu machen. Anfangs geht das gut, doch der Weg eine steile Gletscherzunge herunter endet im Desaster, die letzten 30km müssen zu Fuß bewältigt werden. Ein Schneesturm überrascht sie, ihre Situation ist aussichtslos.
Unerwartet kommt Rettung, tauchen unbekannte Luftschiffe (Blimps) auf, gelenkt von Angehörigen der "Antarktiker" - einer ca. 1000köpfigen Gruppe von ‚Aussteigern', die schon seit Jahren den Kontinent als Wohnort ausgewählt haben und dort versuchen zu (über)leben. Die Retter bringen alle zu einem ihrer Camps und sie treffen dort auf deren charismatische Führerin, die Samin Mai-Lis. Den Antarktikern kommen die, nicht von ihnen (!) verursachten Anschläge sehr ungelegen, denn sie müssen nun befürchten, vom Kontinent vertrieben zu werden. Mai-Lis weiß jedoch, wer dahinter steckt, und Val, X und Wade werden als Zeugen gebraucht, als die Antarktiker das ‚Piratennest' ausräuchern. Die Radikalos werden aus der Antarktis verbannt. Nachdem den Dreien ein größeres Camp gezeigt wird, werden sie zurückgebracht.
Senator Chase regt eine Konferenz aller Beteiligten in MacMurdo an, bevor die Untersuchungen seitens CIA, FBI usw. beginnen. Auch Mai-Lis und ein Vertreter der Radikalos sind dabei. Das Ergebnis nach tagelangen Diskussionen ist der Vorschlag für eine, der aktuellen Situation angepasste Erneuerung des Antarktisvertrages.
Wade fliegt zurück in die Staaten, um dem Senator beim Wahlkampf zu helfen. Val beschließt, bei den Antarktikern zu leben und X wird der Führer einer Genossenschaft von Mitarbeitern des technischen Hilfsdienstes, die sich nun selbst verwalten wollen. Zum Abschied sucht Ta Shu für ihn den rechten Feng Shui-Platz für den Bau einer Blockhütte auf Cape Evans aus.


DIE BESPRECHUNG

Zunächst eine Warnung:
Wer glaubt, in einem SF-Roman haben wissenschaftliche Detailbeschreibungen und politische Debatten nichts zu suchen, sollte "Antarktika" gleich aus den Händen legen.
Für die anderen dagegen birgt das Buch ein vielfältiges, an keiner Stelle langweilig werdendes Potenzial an Möglichkeiten. Kim Stanley Robinson war sechs Wochen lang selbst in der Antarktis zu Gast und dieser Roman ist seine Liebeserklärung an den kältesten und scheinbar unwirtlichsten aller Kontinente.
Die Krimifreunde finden einen aufregende Thriller mit einer überraschenden Wendung auf dem Höhepunkt der Spannung. - Wer Liebesromane mag, folge der bezaubernden Dreiecksgeschichte um Val, X und Wade. - Anhänger von Sachbüchern können viele Informationen über die geologische Beschaffenheit des sechsten Kontinents herausziehen. - Und historisch Angehauchte?
An vielen Stellen wird die Geschichte von Antarktika geschickt eingewoben und aus den unterschiedlichen Gesichtspunkten diskutiert. War Scott ein Held oder nur ein Versager; warum gab es diese unüberbrückbare Feindschaft zwischen ihm und Shackleton; war es verwerflich, dass Amundsens Team seine Schlittenhunde verzehrt hat?
Das wirkt nie belehrend sondern informativ und lehrreich.
Robinson ist zurückgekehrt vom Roten Planeten.
Vielleicht war ein Motiv dieses Buch zu schreiben, dass der Mars zu weit weg, dessen Besiedlung zu weit in der Zukunft unserer Gegenwart liegt. Viel von dem, was er an Theorien über das Überleben der Menschheit in der Mars-Trilogie ausgebreitet hat, finden wir auch hier wieder: Eine gemäßigte Forschung versus brutaler Ausbeutung; die unvermeidbare, weil im System begriffene Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaftssystemen; die Überlegenheit von genossenschaftlichem Arbeiten; den Versuch der ‚Eingeborenen' (s. "Grüner Mars"), ihre Lebensweise einer an sich lebensfeindlichen Welt anzupassen - die Entwicklung einer sympathischen, keinesfalls abstrakten, untotalitären Utopie.
Robinson hat sie nicht weiterentwickelt, was ihm vielleicht manche Kritiker vorwerfen werden, aber er hat seine Ideen auf die Erde heruntergebracht. Das macht sie greifbarer und erleichtert die eigene Auseinandersetzung mit ihnen.
Irgendwo im Buch steht - ich glaube, einer der Antarktiker sagte es - Antarktika stehe stellvertretend für die ganze Erde. Nun, ob die hier im Neuvertrag vorgestellten Zielsetzungen auch auf andere Kontinente übertragen werden können, muss doch stark hinterfragt werden, angesichts des Drucks, den Milliarden von Menschen, die leben wollen, ausmachen. Für kleine Lebenssysteme mag die Robinsonsche Utopie passen, eine universale Lösung für die Probleme Terras ist sie nicht. Was das Buch aber aufzeigt, sind diskutable Wege für einen humaneren Weg in die Zukunft, und von daher ist "Antarktika" vielleicht Robinsons streitbarster Roman.

Wer sich darauf einlassen kann, wird feststellen, dass das Buch nachwirkt und die Gedanken des Lesers noch eine lange Zeit bewegt.
Das ist viel für ein Buch ...

"Ah ja. Sehr schöner Blick. Jetzt wir kommen zu Ende unserer Zeit zusammen, und ich bitte um eine Sache von euch, meine Freunde, die lang und treu sind bei mir geblieben. Wenn meine Übertragung geendet hat, geht hinaus. Macht einen Spaziergang draußen in frischer Luft. Wo immer ihr euch befindet auf dem Gesicht dieses Planeten, es ist ein guter Ort. Atmet tief den Atem der Welt. Schaut alle zusammen zum Himmel über euren Köpfen. Fühlt euch beim Gehen; auch das ist Denken. Fühlt den Wind in eurem Gesicht. Fühlt die Art, wie ihr Tier seid, im Seelenwind atmend. Wenn unsere Zeit zusammen gibt euch nicht mehr als diesen Spaziergang, dann es hat trotzdem noch gut getan. Nun adieu, meine Freunde, bis zu unserer nächsten Zeit zusammen."
Ta Shu

[geschrieben von Joachim Kutzner]

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